Für immer kleiner Bruder

von L. M.

Tod Geschwisterkind www.generationengespräch.de


Es war schön, einen älte­ren und grö­ße­ren Bru­der an sei­ner Sei­te zu wis­sen.
Manch­mal habe ich mit ihm geprahlt, manch­mal habe ich mich hin­ter ihm ver­steckt. Häu­fig habe ich mit ihm irgend­ei­nen Blöd­sinn ausgeheckt.

Ich bin ein Geschwisterkind. 

Ich bin 17 Jah­re lang mit einem grö­ße­ren Bru­der auf­ge­wach­sen. Das wird man nicht wie­der los. Und das ist gut so. Mein Bru­der Sven war 3 1⁄4 Jah­re älter als ich. Er wur­de 1965 gebo­ren, mein Geburts­jahr ist 1968.

Es war eine typi­sche Kind­heit auf dem Lan­de (nicht bäu­er­lich, aber vor den Toren Ham­burgs), wo man kurz vor Schluss aus dem Kino muss­te, um den letz­ten Bus nach Hau­se noch zu bekommen. 

Des­halb waren die Jugend­li­chen in unse­rem Dorf auch alle schon sehr früh mobil und wett­ei­fer­ten um das schöns­te Mofa, das schnells­te Leicht­kraft­rad oder das tolls­te Auto zum 18. Geburtstag.

Auch Sven und ich konn­ten uns dem nicht ent­zie­hen und so kam es zu der Bege­ben­heit, dass Sven kurz vor sei­nem 16. Geburts­tag den Füh­rer­schein für Leicht­kraft­rä­der mach­te und auch schon das nagel­neue Gefährt in der Gara­ge unse­rer Eltern ste­hen hatte. 

Natür­lich konn­te er nicht abwar­ten bis zu sei­nem 16. Geburts­tag und muss­te unbe­dingt am Tag davor eine Pro­be­fahrt durch unser Vier­tel machen. Das erfüll­te lei­der den Tat­be­stand des Fah­rens ohne Füh­rer­schein.

Hät­te er sich ganz nor­mal ver­hal­ten, als er an der Ein­mün­dung zu unse­rer Stra­ße stand und die Poli­zei zufäl­lig vor­bei­fuhr, wäre wahr­schein­lich nichts passiert.

Aber so ist das im Leben nun mal nicht. Und so wen­de­te er hek­tisch mit dem Leicht­kraft­rad und wur­de nach kur­zer Ver­fol­gungs­jagd im Gar­ten unse­res Hau­ses von den Poli­zis­ten gestellt. Sven kam dafür natür­lich nicht ins Gefäng­nis, aber den Füh­rer­schein bekam er erst mit eini­gen Wochen Ver­spä­tung zur Stra­fe und eine saf­ti­ge Stand­pau­ke dazu.

Ich erzäh­le die Geschich­te immer mit ein biss­chen Bewun­de­rung für mei­nen gro­ßen Bru­der, denn ich hät­te mich das damals nicht getraut.

Sven hat immer alles zuerst gemacht und für uns durchgeboxt.

Sei es das Mofa, das Leicht­kraft­rad, das Auto, das län­ge­re Weg­blei­ben oder das coo­le Zim­mer im Keller. 

Wir haben nicht alles auf dem Sil­ber­ta­blett ser­viert bekom­men, son­dern haben auch Gegen­leis­tun­gen dafür gebracht, wie zum Bei­spiel Rasen­mä­hen, Auto­wa­schen oder Job­ben auf dem Bau wäh­rend der Schul­fe­ri­en. Ich habe auch Klei­dung von Sven auf­ge­tra­gen, was ich aber nie als nach­tei­lig erach­tet habe.

Sven war sehr sportlich.

Er hat Ten­nis gespielt und war Hockey-Tor­wart: Mit sei­ner Mann­schaft wur­de er sogar Deut­scher Meister.

Ich war sehr stolz auf mei­nen gro­ßen Bru­der und habe zu ihm aufgeschaut.

Ich glau­be, man ver­sucht immer sei­nen grö­ße­ren Geschwis­tern nach­zu­ei­fern. Hockey war aller­dings nichts für mich. 

Für immer kleiner Bruder Wettkampf Generationengespräch

Ich habe es mal aus­pro­biert und habe rie­si­ge Rücken­schmer­zen von der gebeug­ten Hal­tung beim Lau­fen bekom­men. Viel­leicht war Sven des­halb auch Torwart?

Auch an vie­le gemein­sa­me Ski­ur­lau­be kann ich mich erin­nern. Unse­re Eltern haben uns zum Glück sehr früh auf Ski­er gestellt und sind regel­mä­ßig mit uns in die Ber­ge gefah­ren. Auch bei den dort statt­fin­den­den Gäs­te­ren­nen ging es immer ums Gewin­nen und dar­um, wer der Bes­se­re ist.

Die Riva­li­tät zwi­schen uns war glau­be ich nor­mal wie zwi­schen ande­ren Geschwis­tern auch. Beson­ders erin­ne­re ich mich aber an die Angst, zu kurz zu kom­men, wenn es dar­um ging, Essen oder Süßig­kei­ten zu tei­len oder auf­zu­tei­len. Das hat sich bei mir so ein­ge­brannt, dass ich noch heu­te schlecht tei­len oder abge­ben kann, wor­un­ter beson­ders mei­ne Lebens­ge­fähr­tin zu lei­den hat. Sie weiß aber, woher es bei mir kommt, und sieht es mir glück­li­cher­wei­se nach.

Durch mei­nen Bru­der bin ich sehr früh mit Musik in Kon­takt gekom­men, die mich bis heu­te beglei­tet und ein wich­ti­ger Teil mei­nes Lebens ist.

Mein Musik­ge­schmack wur­de sehr durch Sven und die Acht­zi­ger Jah­re geprägt. Noch heu­te kann ich sagen, ob Sven zu Zei­ten des Songs noch am Leben war oder nicht.

Der Tod mei­nes Bru­ders war so ein­schnei­dend, dass es ein „davor“ und „danach“ gibt.

Eine schö­ne Erin­ne­rung sind Svens Par­tys im Keller.

Bei denen durf­te ich manch­mal den Bar­kee­per und Disc­jo­ckey spie­len. Das war natür­lich das Größ­te für den klei­nen Bru­der, bei den Gro­ßen dabei zu sein. Man kam sich älter und wich­ti­ger vor als man in Wirk­lich­keit war.

Ich leg­te bei Svens Par­tys Musik auf, damals noch Vinyl-Maxis oder Lang­spiel­plat­ten und ich gab Geträn­ke an unse­rer Bar aus.

Ich hat­te sozu­sa­gen die Macht. Und gegen Ende der Par­tys, wenn Eng­tanz-Lie­der gespielt wur­den, guck­te ich immer ganz genau hin, wie die Gro­ßen das mit dem Tan­zen und Knut­schen mach­ten. Mein gro­ßer Bru­der als Vor­bild und Lehrmeister.

Sven erkrank­te 1986 wäh­rend sei­ner Bun­des­wehr­zeit. Er war 20 Jah­re alt.
Sei­ne schlim­me Krank­heit wur­de zuerst nicht rich­tig dia­gnos­ti­ziert. Es war lei­der kei­ne Lun­gen­ent­zün­dung, wie am Anfang ver­mu­tet wurde.

Die Medi­zin war vor 35 Jah­ren sicher noch nicht so weit fort­ge­schrit­ten wie heute.

Zu die­ser Zeit war ich gera­de in der Ober­stu­fe. Auf Fotos von damals erkennt man, wie mich die Situa­ti­on mit­ge­nom­men hat. Die ers­ten Anzei­chen der Krank­heit wur­den im Febru­ar 1986 fest­ge­stellt, im Okto­ber 1986 ist Sven dann gestorben.

Genau an dem Tag, an dem ich nach drei Wochen von einer USA-Rei­se zurück­ge­kom­men bin. Das letz­te Mal habe ich ihn am Flug­ha­fen Ham­burg gese­hen, als er mich mit mei­ner Mut­ter zum Abflug gebracht hat.

Wenn ich heu­te gefragt wer­de, ob ich Geschwis­ter habe, ant­wor­te ich nach Tagesform.

 „Ich hat­te einen Bru­der“, ist mei­ne Ant­wort, wenn ich Lust und Zeit habe, die Ver­gan­gen­heits­form anschlie­ßend zu erklä­ren, denn der Krebs­tod mit 21 Jah­ren ist ja nun alles ande­re als normal.

Ich füh­le mich aber immer als klei­ner Bru­der und als Geschwis­ter­kind und das strahlt man, glau­be ich, auch aus. 

Natür­lich war die Krebs­er­kran­kung mei­nes Bru­ders eine schwe­re Zeit für die gesam­te Fami­lie, aber ich hat­te zu kei­nem Zeit­punkt das Gefühl, dass ich nicht gese­hen oder beach­tet wurde.

Für immer kleiner Bruder Trauer Generationengespräch

Mir war klar, dass Sven die vol­le Auf­merk­sam­keit brauch­te und aus heu­ti­ger Sicht und als zwei­fa­cher Vater ver­ste­he ich, was für eine gro­ße Belas­tung die­se Zeit damals für mei­ne Eltern gewe­sen sein muss.

Eine kurio­se Sache bezüg­lich mei­nes Bru­ders ist, dass ich ihn für immer als gro­ßen und älte­ren Bru­der sehe, egal wie alt er ist.

Als ich 21 war, habe ich gedacht: „Jetzt bin ich so alt wie Sven, als er starb. Unfassbar!“

Als ich 42 war, habe ich gedacht: „Jetzt bin ich schon dop­pelt so lang auf der Welt wie Sven es war. Unfass­bar!“

Und es gab so vie­le Momen­te dazwi­schen, an denen ich an ihn gedacht habe und mich gefragt habe: „Wie sähe er wohl heu­te aus? Was wäre aus ihm gewor­den? Wäre er ver­hei­ra­tet, hät­te er Kinder?“

Ich wäre so gern ein lie­be­vol­ler Onkel für sei­ne Kin­der gewor­den. Sei­ne Mei­nung fehlt mir. Er fehlt mir. Jeden Geburts­tag. Jeden Fei­er­tag. Jeden ein­zel­nen Tag.

Für mich ist Sven „Fore­ver twenty-one“.

Für immer klei­ner Bru­der ist ein Text­aus­zug aus einer Bild­bio­gra­phie, die im Som­mer 2022 erschei­nen wird.

Copy­right: Agen­tur für Bild­bio­gra­phien, www​.bild​bio​gra​phien​.de, 2022

Wei­ter­füh­ren­de Beiträge:

Geschwis­ter­lie­be: Geschwis­ter sind die Men­schen, mit denen wir die längs­te Bezie­hung unse­res Lebens füh­ren. Gro­ßer Bru­der, klei­ne Schwes­ter, Nest­häk­chen oder Ein­zel­kind – nicht nur der Cha­rak­ter unse­rer Geschwis­ter­be­zie­hun­gen, son­dern auch unser Platz in der Geschwis­ter-Rei­hen­fol­ge kann von gro­ßer Bedeu­tung für unser spä­te­res Leben sein.
Klei­ne Schwes­ter, gro­ßer Bru­der: Geschwisterkonstellationen

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Bild­nach­wei­se:

Bil­der von pri­vat, Gerd Alt­mann (bear­bei­tet), Mal­te Berg, Ralphs_Fotos und Eri­ca Ruther­ford auf Pixabay

Geschichte und Psychologie Vergangenheit verstehen um mit der Zukunft besser klar zu kommen
Geschich­te & Psy­cho­lo­gie:

Vergangenes verstehen,
um mit der Zukunft besser klar zu kommen.

Ich brin­ge mit mei­nem Team Lebens‑, Fami­li­en- und Unter­neh­mens­ge­schich­ten ins Buch und schrei­be als Ghost­wri­te­rin Bücher mit den Schwer­punk­ten Geschich­te und Psy­cho­lo­gie.

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